Der Turm im Meer (MCPM)

Wie jeden Morgen quälte ihn die flirrende Hitze aus dem Schlaf und zwang ihn seine Lider zu öffnen. Soweit sein Auge reichte, erblickte es das gewohnte, salzige, gnadenlose Wasser, die Wellen und die Gischt.
Er sah nach unten, erblickte das winzige, morsche Stück Holz, das ihn auf den Wellen trug und atmete auf. Er blickte in seine rechte Hand und erkannte das dürre Bäumchen mit den gelben Früchten, das ihn nährte und verspürte Erleichterung.
Er blickte in seine linke Hand und zuckte zusammen. Der letzte Balken des einstigen Floßes hatte sich gestern gelöst und war während des Schlafes seinem entschlossenen Griff entglitten. Er stemmte sich hoch, doch nirgends konnte er das wertvolle Gut erblicken.
Übrig blieb nur die Planke, in dessen Ritzen und Löchern das unbarmherzige Wasser immer weiter vordrang und das Holz morsch werden ließ. Er konnte zusehen, wie sein Lebensraum immer kleiner und zerbrechlicher wurde.
Die stoische Sonne begann mit ihrer täglichen Folter und das Pochen kehrte in seinen Kopf zurück. Er ließ sein Bäumchen los, holte tief Luft, tauchte unter Wasser, nicht ohne den Stamm festzuhalten, und kühlte seine brennende Haut ein wenig ab.
Er versuchte das Holz zwischen ihn und die Sonne zu manövrieren, tauchte kurz auf, holte wieder tief Luft und verbarg sich im Wasser. So blieb er für eine lange Zeit, bis seine Lungen wieder nach Sauerstoff schrien und er auftauchen musste.
Gierig sog er die salzige Luft ein, kletterte geschickt auf die Planke und versuchte schnell die Wasserperlen von seiner Haut zu wischen, da sie sonst die Kraft der Strahlen nur verstärken würden.
Er griff nach seinem Bäumchen, das neben dem Stamm hertümpelte, pflückte eine der gelben Früchte, schälte sie und begann das Fruchtfleisch zu essen. Das karge Mahl vermochte seinen Hunger und seinen Durst kaum zu stillen, doch es hielt ihn am Leben.
Früher hatten sie zwei weitere Bäumchen, eines mit braunen länglichen Früchten und das andere mit dunkelblauen ovalen. Es war die Zeit gewesen, als seine Eltern noch bei ihm waren, wenige Jahre des Glückes.
Sie wollten gerade aufbrechen, erzählte ihm seine Mutter, als die Wehen einsetzten und er das Licht der Welt erblickte. Und obwohl immer einer der beiden Wache gehalten hatte, verloren sie beide Bäume. Über blieb nur der dritte mit den gelben Früchten.
Als er dann nicht mehr von seiner Mutter gesäugt werden konnte, wurde die Nahrung immer knapper, bis der Vater schließlich entschied, in die Tiefe zu gehen, aus der er nie wieder zurückkehrte. Er konnte sich an seinen Vater nicht erinnern.
Fortan waren er und seine Mutter alleine. Er versuchte auch wache zu halten, doch viel zu oft schlief er ein und hie und da löste sich ein Balken von ihrem Floß und ihr Lebensraum verkleinerte sich.
Doch die Mutter war ihm nie böse gewesen. Sie erzählte ihm viele Geschichten und lehrte ihn das Sprechen, zumindest so gut, dass er in Worten denken konnte. Und sie sagte ihm, dass sie nichts bereuen würde.
Doch dann wurde die Nahrung auch für sie beide zu wenig und bald ging auch seine Mutter in die Tiefe. Er kann sich nur noch an ihre sanfte Stimme erinnern, an ihr dünne, rissige Haut und an ihr Gesicht, wie es unter der Wasseroberfläche in die Dunkelheit glitt, immer undeutlicher wurde und schließlich verschwand.
Er musste mit den wenigen Worten auskommen, die er bis dahin gelernt hatte und er musste von nun an für sich selbst sorgen. Wenn er schlief, legte er sich quer auf die verbliebenen Balken, in der Hoffnung zu fühlen, wenn sich einer der Balken löste.
Doch das Wasser kannte keine Gnade, löste das Holz, morschte es auf und bald schon konnte er es nicht mehr zusammenhalten. Ein Gut nach dem anderen trieb davon und mit ihm ein Stück Komfort.
Der letzte Baum mit den gelben Früchten vermochte ihn gerade noch am Leben zu halten und er musste sich eingestehen, dass seine Entschlossenheit gebrochen war. Er hatte alles bis auf die morsche Planke und seinen Baum verloren, alles, was er kannte.
Früher war er oft gegen die Strömung geschwommen, da er hoffte, dass dort etwas Neues war, etwas, das er noch nicht kannte. Inzwischen ließ er sich nur noch von den Wellen treiben und hoffte auf das Schicksal.
Er versuchte sich an die Geschichten seiner Mutter zu erinnern, erzählte sie den Wellen und übte dadurch Sprache. Er bat sie, ihn zu geleiten oder ihm etwas zuzutreiben, doch auch der heutige Tag brachte nichts Neues. Das Wasser war gnadenlos.
Die Sonne senkte sich auf den Horizont zu und sein Geist vermochte in der flirrenden Hitze kaum noch etwas wahrzunehmen. Mit letzter Kraft tastete er zur zweiten gelben Frucht für den Tag. Sein Zahnfleisch schmerzte.
Er aß immer eine der gelben Früchte in der Früh und eine am späten Nachmittag und wurde vor dem Einschlafen dann wieder hungrig. Doch während des Schlafes verspürt man den Hunger nicht, versuchte er sich zumindest einzureden.
Endlich verschwand die stoische Sonne und es wurde Nacht. Die sengende Hitze ließ langsam nach und seine Haut kühlte ab. Das Pochen in seinem Kopf wurde etwas schwächer und sein Geist wieder klar.
Er legte seinen dürren Oberkörper über die Planke, umklammerte mit beiden Händen sein Bäumchen, schloss die Augen, versuchte den Hunger zu ignorieren und wartete, bis der Schlaf ihn erlöste.
Er träumte von den Geschichten seiner Mutter, von fester Materie, die sich nicht von den salzigen Wellen des gnadenlosen Wassers bewegen ließ, von Steinen und Mauern und von dem Grund der See, von festem Boden.
Salziges, gnadenloses Wasser schwappte plötzlich in Nase und Mund und riss ihn aus dem Schlaf. Er musste husten, musste niesen und schnappte nach Luft. Sein Körper schoss hoch und er sah sich panisch um.
Soweit sein Auge reichte erblickte er das gewohnte, gnadenlose Wasser, die salzigen Wellen und die Gischt. Er blickte nach unten, doch da war kein winziges, morsches Stück Holz, keine Planke. Er sah in seine Hände, doch da war kein Bäumchen.
Angst und endgültige Resignation durchfluteten ihn, als er bemerkte, dass sein Körper nicht in die Tiefe sank. Er blickte erneut nach unten, fühlte und hielt die Luft an als er erkannte, dass er auf festem Boden lag.
Vorsichtig drückte er seine Hände in den schlammigen Grund und stemmte sich weiter hoch. Das Wasser war nur noch eine handbreit über dem festen Land, Land, das ihn gehalten hatte, während seine Planke und seine Nahrungsquelle davontrieben.
Die Sonne quälte ihn und das Pochen kehrte zurück. Er versuchte aufzustehen, brach zusammen und versuchte es erneut. Es dauerte lange, bis er endlich auf seinen wackeligen Beinen stehen konnte, Beine, die zum ersten Mal sein Gewicht trugen.
Er sah sich um und erstarrte vor Staunen. Noch nie hatte er so weit über die Wellen hinwegsehen können, noch nie kam ihm der Horizont so fern vor, noch nie fühlte er sich so unendlich einsam. Er wollte zurück, zurück zwischen die schützenden Wellen auf seine Planke mit seinem Bäumchen.
Schwer atmend begann er zu suchen, doch seine Augen waren diese Ferne nicht gewohnt. Er blickte zwar oft zum Himmel, scheute jedoch die Sonne und wagte es nie zu fokussieren. Er kniff seine Lider zusammen, doch nirgends trieb seine Planke oder sein über alles geliebter Baum.
Er hätte sich nicht beschweren dürfen, hätte dem Bäumchen nicht vorwerfen sollen, dass es seine Eltern nicht ernähren konnte und selbst ihn mit Hunger in den Schlaf entließ. Nun hatte das Bäumchen genug von ihm gehabt und hatte ihn gemeinsam mit der letzten Planke verlassen.
Vorsichtig versuchte er die ersten Schritte zu gehen, während ihn Hunger und Hitze quälten. Er versuchte sich an der stoischen Sonne zu orientieren, suchte ein Ziel am Horizont, haderte lange mit sich und entschied schließlich mit der Flut zu gehen, seinem Holz und seinem Bäumchen hinterher.
Er setzte einen Fuß vor den anderen, machte einen Schritt und dann den nächsten, spürte, wie seine wackeligen Beine nachgaben, brach nieder, stemmte sich wieder hoch und ging weiter, immer Richtung Norden, weg vom quälenden, roten Ball am Himmel.
Noch bevor die stoische Sonne im Zenit stand, reichte ihm das Wasser bereits bis zu den Knien, die Wellen schlugen gegen seine Oberschenkel und noch immer konnten seine Augen nicht fokussieren, erkannten nichts außer sich bewegendes, gnadenloses Wasser.
Unbeirrt schritt er voran, während die stoische Sonne über den Himmel wanderte und ihre Strahlen hernieder sandte. Dann endlich wurde es Abend und die Hitze verschwand, doch das salzige Wasser stieg immer weiter und reichte ihm bald bis zu den Hüften, während Wellen gegen seinen Körper schlugen.
Nun quälten ihn Hunger und Müdigkeit, doch das gnadenlose Wasser stand fiel zu hoch um sich hinzulegen und die See war viel zu stürmisch um im Stehen ein wenig zu dösen. Er musste all seine Kräfte aufbringen, um nicht im niedrigen Wasser von den Füßen gerissen zu werden und zu ertrinken.
Er erblickte die Sterne, versuchte zu fokussieren, versuchte seine Augen zu schärfen, versuchte sich zu orientieren und schritt weiter Richtung Norden, während das gnadenlose Wasser stetig anstieg. Vielleicht war er in die falsche Richtung gegangen.
Seine Kräfte schwanden und immer wieder schwappte eine Welle über seinen Kopf. Er versuchte das salzige, gnadenlose Wasser nicht einzuatmen und weiter zu wandern, doch er kam nur mehr träge voran.
Dann kam die Morgenröte, das Pochen, sogleich die ersten Strahlen der Sonne und schließlich ihr voller, rotleuchtender Ball. Das Wasser stand ihm bis zum Hals und er war immer wieder gezwungen einige Momente zu schwimmen.
Er war kein guter Schwimmer, hatte es nie richtig gelernt, da er sich nie weiter von seinem Holz und seinem Bäumchen entfernen wollte. Er war ein Klammerer, ein Festhalter und sogar darin hatte er versagt.
Seine Sinne schwanden, doch mit letzter Kraft kniff er noch einmal seine Augen zusammen und hielt ungläubig den Atem an. Schon oft hatte ihm die Hitze Streiche gespielt, doch er hatte gelernt ihre Täuschungen zu erkennen.
Nun aber sah er eine Säule, graue Steine, die sich aufeinander stapelten und mehrere Meter aus dem Wasser ragten. Es musste ein Turm sein, wie ihm seine Mutter erzählt hatte, ein Turm, der sich nicht mit dem Wasser bewegte. Und es war keine Täuschung.
Das Wasser ging ihm bis zum Hals. Er sammelte seine letzten Kräfte, marschierte stoisch, paddelte voller Hoffnung mit den Armen und stieß sich immer wieder vom Boden ab, bis seine Füße den Grund gänzlich verließen und er gezwungen war nur noch zu schwimmen.
Die Zeit verging quälend langsam und der Turm rückte nur Stück für Stück näher, bis die unbarmherzige Sonne bereits wieder den Horizont erreicht hatte und er endlich ankam. Erschöpft krallten sich seine Hände in den Stein, während sich sein Körper erholte.
Eine Körpergröße über ihm befanden sich ein hartes Gitter und eine Auslassung im Mauerwerk, doch er war noch nie geklettert und vollkommen entkräftet von Hunger und Marsch. So kurz vor dem Ziel würde er jedoch nicht aufgeben.
Er begann zu klettern, fiel ins Wasser, schoss wieder aus den Fluten, verkeilte seine dürren Finger im Stein, zog ächzend seinen Leib in die Höhe, griff weiter nach oben, bis seine Hände bluteten und erreichte endlich eine Stange.
Mit letzter Kraft kam er auf seine wackeligen Beine, schob und zerrte an der Tür, bis sich diese endlich öffnete, stolperte ins Innere des Turms, schloss die Tür, fiel auf die Knie und sah sich keuchend um.
Das Pochen ließ nach. Alles war starr, alles stand still, nichts bewegte sich. Es gab Flächen und Löcher, Ritzen und Erhebungen, weiche und harte Materie und ein kleines Bäumchen mit orangenen Früchten in einem Becken aus Wasser.
Er griff nach einer der Früchte, öffnete sie, biss in das Fleisch, wobei Blut zwischen seinen Zähnen hervortrat, aß so hastig und schnell er konnte, bis er schließlich zusammenbrach und vom Schlaf übermannt wurde.
Er träumte von den Strapazen der vergangenen Tage, von seiner Planke und seinem Bäumchen und von unsagbaren Schmerzen in seinem Unterleib. Dann wurden seine Träume ruhiger und er fühlte Geborgenheit.
Er erwachte gemächlich und schlug erst nach vielen Momenten die Augen auf, denn er fühlte keine quälende Hitze. Das Pochen war nicht zurückgekehrt. Er sah sich um, doch er erblickte kein gnadenloses Wasser und keine Planke, dafür einen festen Boden und ein Bäumchen mit orangenen Früchten.
Nie hatte er so lange geschlafen, so lange geträumt, denn die Sonne stand schon wieder am Horizont. Er nahm zwei Früchte, stillte seinen Hunger und seinen Durst über die Maßen und richtete sich dann gemächlich auf.
Er erforschte neugierig seine Umgebung, seinen neuen Lebensraum, sein neues Reich. Er war nun der Wärter, würde täglich über das Meer blicken und würde warten, bis noch jemand den Turm im Meer fand.
Er ließ seine Finger über Flächen und Erhebungen gleiten, drehte an runden Höckern, wackelte an kleinen Zäpfchen und verfolgte lange Schnüre, die bis zum Dach führten, wo schwarze Ziegel zur Sonne ausgerichtet waren.
Das Bäumchen vermochte seinen Hunger und seinen Durst zu stillen, doch die starre Umgebung bereitete ihm Unbehagen und ihm wurde übel. Einzig und allein seine Neugier ließ ihn vergessen und trieb ihn voran.
Als er wieder einmal an einem Rädchen drehte und auf eine Erhebung drückte, leuchtete eine der glatten Oberflächen auf und eine Stimme ertönte. Er zuckte erst erschrocken zusammen, lauschte jedoch sogleich andächtig den Worten:
„Gottes Sintflut war nur eine Ermahnung und ein Vorgeschmack seiner Macht. Wir haben gesündigt, die Ressourcen des Planeten geschändet, unseren Lebensraum vergiftet und der allmächtige Herr hat in seiner Gnade nur allzu lange zugesehen.
Die vereinten Nationen reagierten schnell. Nachdem es vierzig Tage geregnet hatte und bereits viele Landteile versunken waren, startete bereits die erste Rakete in die neue Welt. Seither mussten wir uns immer weiter auf die Berge und auf Schiffe zurückziehen, doch seither sind auch viele Spaceshuttles gestartet und wir haben es bald geschafft.
Zur viertausendsten Regenstunde wird die letzte Rakete diesen Planeten verlassen und in eine neue Heimat aufbrechen. Nur noch eine Handvoll Helikopter und Flugzeuge suchen nach Zurückgebliebenen, doch wir haben sorgfältig gearbeitet und sind davon überzeugt, alle gerettet zu haben.
Wir haben diesen Planeten zerstört und suchen nun Hoffnung in einer fernen Welt. Sollte dennoch jemand auf diesem Planeten zurückgeblieben sein, so habe ich diese Türme an hohen Stellen errichtet, sie mit Solarzellen gespeist und mit dieser Aufzeichnung versehen, um euch zu informieren: Wir sind fort!“

Podcast herunterladen

Dieser Beitrag wurde unter Kurzgeschichten, Podcast abgelegt und mit , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

8 Kommentare zu Der Turm im Meer (MCPM)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.