Dies ist meine Interpretation der Texte und Sachverhalte:
Platon schrieb einen fiktiven Dialog zwischen seinem Lehrer Sokrates und dessen Schüler Kriton. Dabei ist Sokrates in späten Jahren in Athen wegen Gottlosigkeit und Verführung der Jugend zum Tode verurteilt worden. Kriton besucht Sokrates im Gefängnis und will ihm zur Flucht verhelfen, doch Sokrates weigert sich. Kriton ruft Sokrates seine Pflicht seinen Kindern gegenüber in Erinnerung und meint, dass das Urteil fragwürdig war und sogar der Richter seine Flucht wohlwollend betrachten würde. Andere Städte würden ihn gerne aufnehmen. Sokrates gegenargumentiert:
Wenn Sokrates die Gesetze in Athen nicht gefallen hätten, hätte er bei Zeiten in eine andere Stadt gehen können. Wenn jemand die Gesetze versteht und in der Stadt/dem Land bleibt, akzeptiert er diese stillschweigend. Sokrates steht für seine Überzeugungen. Eine Flucht würde das Recht der Stadt erschüttern und damit das Zusammenleben der Menschen gefährden. Außerdem würde die Flucht seine Lehren schmälern.
Laut Wikipedia über Kriton:
- Konventionelle Ansichten sind belanglos, maßgeblich ist nur die Vernunft.
- Die Richtschnur hat unter allen Umständen die Gerechtigkeit zu sein.
- Man darf Unrecht nicht mit Unrecht vergelten und generell nichts Schlechtes tun.
- Verpflichtungen sind einzuhalten.
- Diese Prinzipien sind wichtiger als die Rettung des Lebens.
- Demnach darf sich auch bei einem ungerechten Gerichtsurteil ein Bürger nicht seiner Strafe entziehen, da er sonst die Gültigkeit der Gesetze und damit die Grundlage des geordneten Zusammenlebens im Staat verneinen würde, was ein Unrecht wäre. Es wäre ein Verstoß gegen die Loyalitätspflicht des Bürgers gegenüber der staatlichen Gemeinschaft.
Grundlegend ist zu sagen, dass Menschen in Gemeinschaften Regeln benötigen. Je größer die Gemeinschaft, desto mehr Regeln, da die Verantwortung des Einzelnen umgekehrt im Verhältnis der Größe der Masse durch Diffusion sinkt. Sobald man die Gesetze verstanden hat und bleibt, akzeptiert man diese stillschweigend. Wenn diese Gesetze nun fehlerhaft gegen die eigene Person sind, muss man sie dennoch akzeptieren, um das wichtigere Große und Ganze zu schützen. Dies erscheint logisch, dennoch finde ich es wichtig, genauer darauf einzugehen. Durch die Möglichkeit, die Stadt/den Staat zu verlassen, ist die Akzeptanz der Gesetze freiwillig. Doch selbst wenn diese Möglichkeit nicht gegeben ist, muss meist der Staat und das Zusammenleben geschützt werden. Sollte man schon in einem Land leben, wo die Gerechtigkeit am höchsten ist, ist dies das Beste, was die Menschheit zu bieten hat und somit muss man sich dem unterwerfen oder kann an einen Ort ohne Gesetze gehen. Freilich könnte man auch selbst versuchen, die Gesetze zu verbessern. Dieser Punkt ist besonders bei der Ausländerproblematik wichtig, da diese oft nicht die Möglichkeit haben, ihr Land zu verlassen und sich wo anders niederzulassen.
Scheinbar ist dies für den einzelnen Bürger kaum von Bedeutung. Sokrates´ Flucht hätte damals in einer einzelnen Stadt und bei seiner Bekanntheit sicherlich Einfluss genommen, doch bei den heutigen Menschenmassen wird kein Urteil über einen einzelnen „Normalbürger“ den Staat erschüttern. Im Moment (Mitte 2021) stehen beispielsweise zahlreiche hohe Politiker und andere Mächtige in Österreich vor Gericht und versuchen das Gesetz so weit zu biegen, dass sie letztendlich unschuldig sind. Hier ist die Wirkung eine ganz andere. Meist ist so ein Ausmaß nur bei gewichtigen Persönlichkeite, schweren Verbrechen oder einem Urteil des obersten Verfassungsgerichtshofes vorstellbar. Die Reichen und Mächtigen folgen jedoch selten dem Beispiel von Sokrates, um den Staat zu stärken.
In der aktuellen Corona-Krise kann dies jedoch bedeuten: Hält man Verordnungen und sogar Urteile ein, die fragwürdig, jedoch schützend sind, geht man als gutes Beispiel voran und verhindern, dass Corona-Leugner und Gegner die Gesetze biegen und die Gesundheit anderer gefährden können.
Doch wie sieht die Sache im ganz großen Stil aus?
Laut Wikipedia: Gustav Radbruch war ein deutscher Politiker und Rechtswissenschaftler und lebte von 1878 bis 1949. Radbruch war in der Zeit der Weimarer Republik Reichsminister der Justiz. Er gilt als einer der einflussreichsten Rechtsphilosophen des 20. Jahrhunderts. Für Radbruch ist das Recht eine wertbezogene, an der Idee der Gerechtigkeit auszurichtende Realität, die zum Gebiet der Kultur gehört, und damit zwischen Natur und Ideal steht.
Die Radbruchsche Formel von 1946:
Ein Richter hat sich bei einem Konflikt zwischen dem positiven, gesetzten Recht und der Gerechtigkeit nur dann für die Gerechtigkeit zu entscheiden, wenn das fragliche Gesetz
- als unerträglich ungerecht anzusehen ist.
- die Gleichheit aller Menschen aus Sicht des Interpreten bewusst verleugnet.
- „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur‚ unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“
Somit soll das positive Recht also im Grunde immer der Gerechtigkeit dienen. Nach dem Zweiten Weltkrieg argumentierten Verteidiger von angeklagten Nationalsozialisten, dass Hitler die Grausamkeiten befohlen hatte. Doch da diese Gesetze nicht der Gerechtigkeit dienen, sind sie laut Radbruch nicht nur irrelevant, sondern entbehren jeder Grundlage.
Radbruch schreibt weiter
- „Wo also […] Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, können die so geschaffenen Anordnungen nur Machtsprüche sein, niemals Rechtssätze […]; so ist das Gesetz, das gewissen Menschen die Menschenrechte verweigert, kein Rechtssatz. Hier ist also eine scharfe Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht gegeben, während wie oben gezeigt wurde, die Grenze zwischen gesetzlichem Unrecht und geltendem Recht nur eine Maßgrenze ist […].“
Aktuell fing die weißrussische Regierung einen Jet der Ryanair ab und zwang ihn zur Landung in Minsk. Angeblich gab es eine Bombendrohung. In Wahrheit befand sich ein regierungskritischer Journalist in der Maschine, der sofort festgenommen wurde. Bei diesem Beispiel, bei Gesetzen, die momentan der russische Präsident Putin erlässt und bei Diktatoren handelt es sich oft nicht um Gerechtigkeit, sondern um Eigennutz eines einzelnen oder von wenigen Mächtigen. In diesem Fall sagt Radbruch klar, dass die Gesetze irrelevant sind. Man sieht an dem weißrussischen Beispiel, an Putin oder Erdogan ganz klar, wie sehr hier „Tyrannen“ versuchen, alles gesetzeskonform aussehen zu lassen, damit die Welt nicht gegen sie vorgehen kann. Solange die Welt hier nicht Radbruch anwendet, sind dies legale Machtinhaber und dürfen das. Würde die Welt Gesetze nach Radbruch definieren, wäre vieles davon ungültig und wir könnten offen gegen Diktatoren und Co vorgehen.
2 Kommentare zu Müssen wir demokratische Gesetze und Diktatoren akzeptieren?