Eigentlich sollte ein Journalist über ein Thema recherchieren, verschiedene Meinungen einholen, diese aufbereiten und der Konsument darf sich seine eigene Meinung bilden. Heutzutage ist es jedoch meist so, dass sich der Medienbetreiber eine populäre oder polarisierende Aussage aussucht und diese dann von „Experten“, die zufällig diese Meinung vertreten oder denen Geld wichtig ist, zementieren lässt.
Hier ein kleines Beispiel vom Lande, das jedoch gut zeigt, wie Journalisten heute arbeiten.
Wie immer rutschte euer Head Doctor Somebody Else unruhig auf seinem unbequemen Holzstuhl hin und her und wartete auf die Schulklingel, die das Startsignal für einen Wettlauf gab. Endlich war es so weit.
Meine Sachen schon längst in meiner Schultasche verstaut, stürmte ich mit Dutzenden anderen Jugendlichen aus den Klassenzimmern, reihte mich in eine Masse aus über einhundert Schülern ein und versuchte verzweifelt meinen Schulbus zu erwischen.
Das Gedränge in der Garderobe zeigte die zeitliche Komponente von Darwins Evolutionstheorie: „Wer zu schwach ist, wartet einfach den ganzen Nachmittag auf den nächsten Bus und hat somit weniger vom Leben.“
An dieser Stelle gilt mein Dank den öffentlichen Verkehrsbetrieben, deren natürliche Feinde Zeitabläufe und intelligente Fahrpläne darstellen.
Mehrere Duzend Jugendliche drängten also aus der Schule, fluteten lebensmüde die Straßen und stürmten die Bushaltestelle, wo ein Kampf auf Leben, Tod und einen Sitzplatz entbrannte. Jeden Tag ließen hier ein oder zwei Schüler ihr Leben, doch die vielen Mamis und Papis sorgten, Gott sei Dank, für Nachschub.
Nach quälenden zehn Sekunden erschien auch schon der Bus und das Gedränge nahm neue Ausmaße an. Mit meinem geschulten Blick erkannte ich sofort das sadistische Stück Fleisch hinter dem Lenkrad, das immer nur die vordere Tür öffnete und von jedem der über einhundert Schüler, die alle Schultaschen trugen und die er schon längst alle kannte, die Schülerausweise kontrollierte.
Es wäre ja ein Skandal, wenn sich unter die ganzen Teenager ein Nicht-Schüler schummeln würde und die angenehme Fahrt von zusammengepferchtem, schwitzendem Fleisch kostenfrei konsumieren würde. Kein normaler Mensch hätte diesen Bus freiwillig genommen.
Ich robbte mich also zwischen unzähligen Beinen von trampelnden Schülern zur vorderen Tür hindurch, die, wie erwartet, als einzige geöffnet wurde und kämpfte mich blutend in das Innere des Fahrzeuges.
Geschickt wand ich mich zwischen meinen Mitschülern voran, takelte einen Hünen zu Boden, irritierte mit meinen Ninjafähigkeiten eine Mitschülerin und ergatterte einen Sitzplatz in der dritten Reihe. Bin zwar klein aber drahtig und zäh.
Die Türen schlossen sich, während noch Massen an Schülern verzweifelt versuchten die Haltestelle zu erreichen. Der Busfahrer hupte mehrmals und preschte los, während Teenager mit ihren Schultaschen zur Seite sprangen.
Erleichtert atmete ich auf und freute mich schon auf einen Nachmittag zuhause, als mir ein heimtückischer, beißender, ja geradezu dämonischer Geruch in die Nase schoss und ich augenblicklich zu würden begann, während mir Tränen in die Augen stiegen.
Irritiert versuchte ich mich zu orientieren, versuchte die Quelle des Giftgasanschlages ausfindig zu machen und bemerkte, dass alle meine Mitschüler panisch nach Fluchtwegen suchten, während sich der Fahrer ein Tuch vor sein Gesicht hielt.
Die Quelle des bestialischen Gestankes stellte eine ältere, obdachlose Dame in der ersten Reihe dar, die ich flüchtig kannte. Sie trug eine Schürze, ein Kopftuch und den Körpergeruch ihres gesamten Lebens an ihrem Leib und musste sich ihren Sitzplatz durch schwarze Magie ergattert haben.
Schnell wurde uns bewusst, dass der nächste Halt erst in knapp 15 Minuten sein würde. Jeder Schüler atmete noch ein letztes Mal tief ein, wischte sich literweise Tränen aus den Augen und hielt heroisch die Luft an.
Bald war klar, dass niemand von uns so lange die Luft anhalten können würde. Die ersten Schüler versagten, atmeten wieder ein, wurden kreidebleich und sanken bald bewusstlos zu Boden. Panik brach aus.
Während der Busfahrer blind mit einem Tuch vor dem Gesicht lenkte und sich so weit aus dem Fenster beugte, dass sein Kopf die Äste der Bäume am Straßenrand streifte, wiederlegten wir die Regeln der Physik.
Noch nie in der Geschichte dieses Planeten war es Materien gelungen, sich auf so kleinem Raum zusammenzuquetschen. Alle Insassen des Schulbusses verschmolzen in inniger Übereinstimmung in der letzten Reihe zu einem gemeinsamen Ganzen.
Und auch die Theorien über das Lenken eines Fahrzeuges müssen seit diesem Tag neu überdacht werden. Noch heute ist mir unklar, wie der Busfahrer 15 Minuten lang, die kurvige Straße auf den Hügel zurücklegen konnte, obwohl sein gesamter Körper, inklusive seiner Beine, aus dem Seitenfenster ragten.
Als wir endlich den ersten Stopp erreicht hatten, entscheid der Busfahrer zum Wohl von sich selbst und über einhundert Kindern und erklärte der Dame der Düfte, die sich nicht wunderte, warum sie plötzlich alleine im Bus saß, dass sie hier umsteigen müsse.
Die Frau stieg aus und der Fahrer warnte seinen Kollegen, der zehn Minuten später mit einem leeren Bus aus einem anderen Tal hier ankommen würde, vor. Er solle die Dame einfach ganz nach hinten setzen.
Der Bus fuhr weiter und langsam löste sich die inzwischen homogene Fleischmasse wieder in einzelne Schüler auf, die sofort die Fenster öffneten und sich vorsichtig wieder im Fahrzeuginnenraum verteilten. Bis heute hat der Bus diesen individuellen Geruch nicht mehr ganz verloren.
Wir zählten durch und konnten feststellen, dass sich die Opfer in einem erträglichen Rahmen hielten. Bei unserer Ankunft beatmeten zahlreiche Ärzte die „Einatmer“ wieder, während wir einige Mütter über den Verlust ihrer Kinder an eine Paralleldimension informierten.
Nach einigen Tränen und den festen Vorsätzen der meisten Eltern, schnellstmöglich wieder Nachschub zu zeugen, blieb nur noch eine besondere Erinnerung zurück, bis ich am nächsten Tag die Zeitung aufschlug und las: „Nazifahrer wirft arme, alte Dame aus einem öffentlichen Bus!“
Ein besorgter Bürger bemerkte gestern am frühen Nachmittag an einer Bushaltestelle eine alte, verzweifelte Dame. Er hielt mit seinem Wagen, bot dem Opfer an, einige Schritte mit ihm zu gehen und hörte sich die Geschichte an.
Die arme, alte Dame wurde vor wenigen Minuten von einem Fahrer, der sicherlich etwas gegen Frauen hatte, aus einem öffentlichen Bus geworfen. Der besorgte Bürger meldete diesen Vorfall unserer Zeitung und erklärte:
„Es ist eine Schande, wie die Menschen heutzutage miteinander umgehen. Der Nazi-Busfahrer hat die arme, alte Dame einfach aus dem Bus geworfen, und das nur, weil sie alt war und vielleicht nicht so ganz gut roch.
Nicht so ganz gut roch??? Nachdem ich diesen sachlichen Bericht über einen Busfahrer mit überraschendem Wiederbetätigungshintergrund gelesen hatte, stellte ich weitere Recherchen an, denn als der Mann und „das Opfer“ wieder zur Bushaltestelle zurückkamen, war der zweite Bus bereits abgefahren. So ein Pech.
Der besorgte Bürger hatte zwar ein Auto und den gleichen Weg wie die arme, alte Frau, verwies jedoch auf den nächsten Bus, der in genau vier Stunden eintreffen würde. Immerhin wollte er ja nicht sein neues Auto verpesten lassen.
Ich war schon dabei, eine Gegendarstellung zu verfassen und den lieben Journalisten, der diesen objektiven Bericht ohne jegliche weitere Recherchen verfasst hatte, zu fragen, ob er sein Handwerk bei Joseph Göbbels erlernt hat.
Doch als ich am nächsten Tag wieder zusehen musste, wie unser geschätzter Busfahrer weitere Schüler auf der Bushaltestelle zurückließ, die vier lange Stunden auf den nächsten Bus warten durften, entschloss ich, dass er das nicht verdient hätte.
Vergewaltigung, Todschlag, Mord, Krieg und das neue Toaster-Smartphone. Schlagzeilen müssen Aufmerksamkeit erregen und unglaubliches prophezeien. Sie versprechen Glück und Erfolg, Leid und Gewalt und geheime, ungeahnte Informationen.
Als in Kriegszeiten der Informationsfluss zum Erliegen kam, dachten sich einige Zeitungen einfach Nachrichten aus, um das Volk zu unterhalten. Bei der heutigen Berichterstattung mit dem aktuellen Informationsüberfluss habe ich oft das Gefühl, dass sich nicht viel geändert hat.
Was denkt ihr über den heutigen Journalismus?
5 Kommentare zu Die Lügen der Medien – der Schulbus (MCPM 011)