Ich befand mich in einer fremdartigen Welt in einem gigantischen Nest auf einem Baum und war gerade nackt aus einem Ei geschlüpft. Kryptoornithologie war noch nie meine Stärke gewesen, doch die überdimensionalen Raubvogeleier in Menschengröße neben mir ließen mich unbestimmte Gefahr wittern. Ein Eichhörnchen auf einem Nachbarbaum sortierte gerade seine Nüsse nach Größe und Form und beobachtete mich. Es versprach keine Hilfe. Ich krabbelte grimmig entschlossen los, klammerte mich an einen mir unbekannten Ast und fühlte, wie ein lauer Frühlingswind über meine Haut strich. Ich begann unkontrolliert zu zittern, war jedoch der Überzeugung, dass dies lediglich an der Kälte und nicht an kindlichen Angstzuständen lag. Das Eichhörnchen schien zu kichern. Ich überlegte, wie groß die Besitzerin der Raubvogeleier sein musste und wog meine Chancen ab. Entweder würde eine überdimensionale Mutter mit spitzem Schnabel und scharfen Krallen in ihr Nest zurückkehren, mich als artfremdes Wesen identifizieren und seiner Brut zum Fraß vorwerfen. Oder das garstige Wuscheltier vom Nachbarbaum würde zu mir herüberspringen, mir in seinem Hoheitsgebiet das Gesicht zerkratzen und mich anschließend vom Ast stürzen. In diesen luftigen Höhen sah ich keine Zukunft für mich, weshalb ich mich für den vorsichtigen Abstieg entschied. Mit meiner schleimüberzogenen Hand griff ich nach dem nächsten Ast und rutschte überraschend ab. Bei meinem gewollten und zielführenden Sturz in die Tiefe hatte ich selbstverständlich alles unter Kontrolle. Erst wickelte ich meinen nackten Leib um einen tiefer lauernden Ast, dann plumpste ich kopfüber in ein unbewohntes Krähennest, sofort bekam ich einen Zweig zu fassen, der, wie von mir vorhergesehen, augenblicklich abbrach und landete schließlich, wie von mir mathematisch berechnet, auf meinem Hinterteil im Moos. Ich keuchte, rappelte mich hoch und blickte nach oben. Ich sah, wie der Flohknäuel so heftig lachen musste, dass ihm eine Nuss entglitt. Er war ähnlich gewandt wie ich, sprang nach unten, erfasste seine Nahrung, schwang sich an einem Zweig wieder nach oben, landete, hielt sein Futter wie einen Pokal in die Höhe und posierte angeberisch. Mit ein bisschen Übung konnte noch was aus ihm werden.
Peinlich berührt musterte ich meine Umgebung. Die Natur war nicht gerade meine Stärke, doch auf Grund des nassen, schleimigen Bodens vermutete ich, dass ich mich in einem heimtückischen Moor befand. Unverhofft erblickte ich ein kleines, fülliges Mädchen, bei dem ich zuerst nicht sagen konnte, ob sie stand oder lag. Sie durfte ihren Leib eher eine Kugel, als einen menschlichen Körper nennen. Ihr braunes Haar glänzte fettig in der Sonne und ihr sicherlich wunderschönes Gesicht wurde durch zahlreiche Warzen geschickt verhüllt. Ihre großen Augen waren intensiv blutunterlaufen und über ihrem unförmigen Körper trug sie einen straffenden Jutesack. Das kleine Ding stand lethargisch und mit fragendem Gesichtsausdruck zwischen zwei Bäumen und sah irgendwie traurig aus. Ich wischte mir den Schleim von meinem Leib und bedeckte meine Blöße mit einem Blatt, welches ich zuvor auf unerwünschte Jucksporen getestet hatte. Dann winkte ich dem Mädchen und ging zu ihr hin. Das Geschöpf reagierte nicht die Bohne. Ich verbeugte mich tief, schnippte mit meinen Fingern vor ihren vermeintlichen Augen oder zwei glänzenden Warzen und hüpfte würdevoll herum, doch noch immer war keine Reaktion ersichtlich. Sie war ein Warzenfels in der Brandung. Schließlich nahm ich einen Tannenzapfen und versuchte damit das Eichhörnchen auf das Gör zu jagen, doch noch immer geschah nichts. Erst als ich sie ansprach, reagierte der Wonneproppen.
Meine Stimme klang höher als erwartet und meine Sprache blumiger als beabsichtigt: „Die Waldgeister zum Gruße, meine holde Maid. Wie lautet dein werter Name?“
Das schwartige Wesen schien unter ihrer Warzenmaskerade betrübt zu lächeln und erklärte schluchzend: „Mein Name ist Mildret mit der Spiegelhaut.“
Ich mutmaßte, dass Mildrets Eltern über eine gehörige Portion Humor verfügten, doch erklärte förmlich: „Hallo Mildret. Mein Name ist Benedikt. Schön dich zu treffen. Ich habe zwei, drei kleine, fundamentale Fragen und mich gewundert, ob du mir helfen könntest. Ich würde gerne wissen, wie ich schnellstmöglich an Kleidung komme, wo genau ich mich hier befinde und besonders, wie ich in diesem Moor schnellstmöglich an Kleidung komme.“
Mildret schien, soweit erkennbar, ihr Gesicht noch stärker zu verziehen. Entweder versuchte sie mich nun doch unter ihren Abdeckwarzen anzulächeln oder sie bemerkte erst jetzt, dass sie schwer von einem Tannenzapfen getroffen worden war.
Auf alle Fälle ignorierte sie meine Frage und erwiderte lediglich: „Ich kenne aber schon einen Benedikt.“
Ich zuckte gleichgültig mit meinen Schultern: „Tut mir leid, aber ich heiße nun einmal nicht Babsi. Könntest du mir jetzt bitte wenigstens eine meiner Fragen beantworten?“
Mildret nickte oder ließ nur kraftlos ihren Kopf fallen. Ich rechnete mir eine Zwei-Drittel-Chance aus, dass sie die wichtigste Frage zuerst überdenken würde, doch sie meinte: „Wir befinden uns im Knisterwald, Babsi.“
„Eigentlich heiße ich Benedikt, wie eingangs erwähnt. Und Knisterwald klingt nach einem etwas seltsamen Namen für diese Gegend, findest du nicht auch?“
„Der Name ist eigentlich sehr treffend. Seit dem großen Waldbrand, während der Dürre der Agnostikerwolken, glimmt das Unterholz weiter vor sich hin. In der Nacht, wenn die Vögel aufhören zu singen und der Wald zu schlafen beginnt, dann kannst du das Knistern hören. Welcher Name schwebt dir denn für unseren geliebten Wald vor? Babsis Nudistenhain.“
Ich fand es nicht gut, dass dieses Katamari begann, sich über mich lustig zu machen. Ich wollte mich gerade erklären, als ich tatsächlich ein leises Knistern vom Waldboden her hörte und roten Schimmer unter den Rinden der Bäume erahnte.
Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen: „Liebe Mildret, hast du eine hilfreiche Vermutung, warum ich gerade in einem Raubvogelnest aus einem Ei im Knisterwald geschlüpft bin und mich nun hier nackt mit dir unterhalte?“
Das Mädchen schien kurz zu überlegen oder gegen Blähungen anzukämpfen, bis sie schließlich losschluchzte: „Natürlich um mir zu helfen.“
„Das bezweifle ich ernsthaft. Wenn ich mitanfasse ist das so, als würden zwei loslassen.“
„Kunibert ist mein bester Freund auf ganz Aznore’il und ich spaziere fast täglich mit ihm durch das Moor des Knisterwalds. Seit kurzem interessiert sich Kunibert jedoch für Nüsse, sammelt diese, klettert damit auf Bäume und versteckt sie in kleinen Löchern. Ich habe mich erkundigt und herausgefunden, dass dieses Verhalten bei Hunden nur äußerst selten vorkommt.“
Ich blickte fragend in den Warzensalat, dann auf den Baum und mutmaßte: „Kann es sein, dass Kunibert ein Eichhörnchen ist?“
Mildret schien nicht an einer Rassenveränderung ihres Haustieres interessiert zu sein und meinte stattdessen: „Ich glaube, dass du hier bist, um mir meinen Hund wiederzuholen.“
Ich rollte mit den Augen: „Hättest du das nicht einige Momente früher sagen können, als ich noch auf meinem Baum hing und die Aussicht genossen habe?“
Mildret schüttelte den Kopf und erklärte selbstsicher: „Da kannte ich dich noch nicht. Meine Mutter hat mir beigebracht, dass ich nicht mit Leuten sprechen darf, bevor sie mich ansprechen. Wenn sie Helden sind, dann muss ich Ihnen eine Aufgabe geben. Kannst du mir bitte helfen, Heldin Babsi?“
Ich erkannte die Mechanik und seufzte: „Keine Sorge, nur Wesen in höchster Not würden es wagen, dich freiwillig anzusprechen, liebe Mildret. Du musst dir also nicht allzu viele Aufgaben ausdenken. Ich werde dir gerne helfen, deinen Kletterdackel Kunibert vom Baum zu holen. Doch ich benötige unbedingt Kleidung und eine Tasse Erdbeertee, sonst bin ich zu nichts zu gebrauchen.“
Das Mädchen begann zu weinen und quengelte: „Kunibert ist der beste Dackel auf ganz Aznore’il. Ohne ihn habe ich keinen einzigen Freund mehr. Ich kann ihn doch nicht so einfach auf dem Baum zurücklassen. Wenn du mir hilfst, dann werde ich dir Kleidung schenken, versprochen.“
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