0.2 Das Portal unter mir


Geistesgegenwärtig reckte ich mich im Fall nach oben und brüllte meinem Stellvertreter, dem Barbaren, „AFK“ entgegen, was so viel bedeutete wie: Du musst den Angriff auf das Schurkenviertel übernehmen, da sich gerade tatsächlich ein Portal unter meinem Sessel geöffnet hat und ich in ein Loch ohne mir bekanntem Boden falle. Ich war davon überzeugt, dass er sicherlich angemessen reagieren würde. Mein Magen verkrampfte sich, während mein Zimmer in der Ferne über mir verschwand. Ich fiel ohne jegliche Interaktionsmöglichkeiten durch einen bunten Korridor, tiefer, als dies in dem dreistöckigen Haus, in dem ich lebte, eigentlich möglich gewesen wäre. Ich vermute, ich wurde das Opfer eines inkompetenten Baumeisters und diese umstrittene Erdanziehungskraft, von der immer wieder die Rede ist, hatte sicherlich auch etwas damit zu tun. Selbstverständlich konnte ich einen hinterlistigen Magier einer fernen, fantastischen Welt nicht ausschließen. Mein bequemer Lehnsessel, mein Zimmer, meine Nagelschere und auch alles andere Nützliche waren Vergangenheit. Ich hatte während des gesamten Falls keine Möglichkeit über meine aktuelle Situation sinnvoll zu recherchieren, also schrie ich einfach panisch vor mich hin, natürlich nur um mir die Langeweile zu vertreiben. Physik war noch nie meine Stärke gewesen, doch nach einem langen Fall glaube ich im Allgemeinen an einen harten Boden, auf dem ein zarter Junge wie ich ungefragt zerschellen würde. Außerdem machte ich mir Sorgen um meine Gilde, die schon bald die Schlachterei erreichen würde. Ich konnte nur hoffen, dass sie nicht auf den blutigen Wirbelhaken des Metzgers vergessen würden.
Der Fall dauerte verschämter Weise an. Also verstummte ich und begann zu sinnieren. Meine geliebte Mutter würde bald in mein Zimmer kommen, um mir neuen Erdbeertee zu bringen, doch sie würde nur eine halbleere Tasse und einen verwirrten Krieger vorfinden, der auf der Heide des Schweinehirten in die Botanik blickte. Sie würde von einem erneuten Vorfall ausgehen, doch dieses Mal konnte sie mich nicht einfach zu einem Kopfdoktor bringen. Irgendwann würden sich auch meine Gildenmitglieder ernsthafte Sorgen machen, doch sie kannten weder meine Adresse, noch meinen richtigen Namen. Meine Welt war folgelogisch in hellem Aufruhr und ich flog derweilen belanglos durch einen bunten Korridor und kratze mich an der Nase. Doch egal, wohin mich das Schicksal führen würde, ich würde versuchen zurückzukehren. Bis dahin wünschte ich mir, dass meine Gilde und meine Mutter einen adäquaten Ersatz für mich finden würden. Dann wurde es dunkel und ich schlug auf.
Es tat kaum weh und mein Körper zerplatzte nicht in zahlreiche kleinste Teilchen oder verwandelte sich in eine rote Suppe aus Blut, Eingeweiden und einigen Knochen für den herzhaften Geschmack. Nein, ich landete in einer schleimigen Masse und plötzlich herrschte absolute Stille. Etwas geschah mit mir. Ich drehte und wand mich langsam um meine eigene Achse, fühlte Wände, die mich in der schleimigen Flüssigkeit hielten und empfand Geborgenheit und ein logisches Unbehagen. Zeit verging, in der ich absolut nichts machen konnte. Dann plötzlich erschienen diffuse, schlecht aufgelöste Bilder von Männern und Frauen, Rassen und Professionen, von Waffen und Kleidungsstücken und Licht und Dunkelheit vor meinen Augen. Meine Gedanken verweilten noch immer bei meiner Mutter, weshalb ich eine gewiefte, menschliche Frau mit einem flotten Besen fokussierte, die vor einem Tisch stand, von dem aus die unterschiedlichsten Dämpfe aufstiegen.
Dann endlich vernahm ich die ersten Geräusche, drehte und wand mich weiter, konnte durch die Wände hindurch Licht fokussieren, drückte und stemmte, zog und zerrte, löste endlich ein Stück aus der Hülle und streckte meine Arme ins Freie. Ich setzte mein Tun fort, brach Stück um Stück meines Gefängnisses auf, fühlte, wie der Schleim um meinen Körper auseinanderrann, reckte mich hoch in die Luft, sah mich um und kauerte mich sogleich wieder zusammen. Obwohl weder Forstwirtschaft noch Zoologie je meine Stärken waren, konnte ich mit ziemlicher Sicherheit sagen, dass ich mich in einem bunten, fremdartigen Wald, in den Bruchstücken eines riesigen Eis befand, welches in einem Nest hoch oben auf einem Baum lag.
Ich war splitterfasernackt und dachte bei mir: „Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet.“

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